„Vivere militare est“

In Pfarrämtern geschehen schräge Dinge. Vor einiger Zeit hatte mich ein jüngerer Mann angerufen. Er klang irgendwie ein wenig nervös, aber eigentlich ganz sympathisch. Auf der Suche nach einem Seelsorger sei er, sagte er. Ob ich so einer sei, und ob ich auch wirklich studiert hätte, frage er. Nein, vorbeikommen wollte er nicht, man könne sein Anliegen auch jetzt schnell am Telefon klären. Ich habe das eigentlich nicht so gerne. Aber gut, wenn er das so will …

Ob ich den Satz „Vivere militare est“ kenne, fragte er. Er bräuchte diesbezüglich dringend Unterstützung.

Das Wort „militare“ störe ihn – mich störte es auch. Da ich doch Theologie studiert habe, und deshalb sicher gut Latein spräche, könne ich ihm sicher helfen, dieses Wort durch ein ähnliches, weniger kriegerisches, zu ersetzen.

Jetzt hatte ich Latein nicht schon in der Schule, sondern erst an der Uni „gelernt“. Nach der Schlussprüfung hat mein Prof. Schwankl aus dem Fenster gezeigt und mit ernster Miene gesagt: Sehn’s da drüben Maria Hilf mit der Büssertreppe? Da gehen’s heut’ Nachmittag ‘nauf und zünd’n ‘s a grosse Kerz’n a. Grund dazu ha’m Sie.»

Deshalb wollte ich meinen Anrufer eigentlich zu unserem pensionierten Priester mit seinen deutlich besseren Lateinkenntnissen schicken. Während ich die Telefonnummer heraussuchen wollte, fragte ich den jungen Herrn noch, wofür er diesen Satz eigentlich benötige.

Voller Stolz sagte er, er wolle sich den Satz auf den Hintern tätowieren lassen und da käme ein Wort wie „militare“ nicht so gut – vor allem bei den Frauen nicht!

Der Mann sagt „vivere militare est.“ „Zu leben heisst zu kämpfen.“ Da haben wir ihn, den alten Geschlechterkonflikt. 

Ich glaube, dass das inhaltlich völlig falsch ist. Ja, das Leben kann sich manchmal so darstellen, als ginge es nur darum, sich durchzukämpfen, aber das Leben ist nicht grundsätzlich ein Kampf – ausser, wir machen es dazu. Das ist ein Blickwinkel auf das Leben, nicht das Leben selbst. Das Leben ist auch kein Wettbewerb, auch wenn man uns das noch so nachdrücklich eintrichtern möchte. Wer das tut, will uns meist nur etwas verkaufen. Man kann das Leben aus diesem Blickwinkel betrachten und bewerten, aber es bleibt ein Blickwinkel, nicht das Leben selbst.

Ich sage lieber (und das ist eigentlich auch nur ein weiterer Blickwinkel, wenn auch ein, wie ich finde viel sympathischerer): „Vivere, amare est.“ „Zu leben heisst, zu lieben.“

Wenn Du Dich und das Leben frei lässt,
wirklich frei lässt,
wenn Du ohne Angst verstraust, ganz,

wenn Du wach bleibst,
in der Tiefe Deiner Seele,
und die unverfälschten,
klaren Augen Deines Kinderherzens
nicht mit der Suche nach Glück und Unglück verdeckst,
wenn Du das Leben so frisch von innen her anschaust,
genau wahrnimmst,
wenn Du Dich berühren lässt, einfach, und jetzt,
dann wird das,
was Du dann tust,
kraftvoller sein als alles,
was Du Dir vorstellen kannst. 
Deine Schritte werden Dich selbst behüten,
sie werden heilen, segnen, leben. 
Dann wirst Du ein Liebender, eine Liebende sein,
mit jeder Faser Deines Lebens.

Und um das geht es in meinen Augen auch an Ostern. Um die Auferstehung aus der Illusion des Kampfes, die alles und alle in die Rolle von Gegnern oder Verbündeten zwingt. Eigentlich ist es die Illusion der Getrenntheit, aus der es aufzuwachen, aufzuerstehen gilt. Spirituell leben heisst, aus der Erfahrung der Einheit allen Lebens, mich ganz der Unendlichkeit Gottes hinzugeben. Das wäre für mich wahre Auferstehung, wahres Ostern. Oder anders ausgedrückt: Die Augen zu öffnen und zu sehen, dass ich bis in die letzte Faser nichts anderes bin als Liebe.

Trotzdem würde ich mir das jetzt nicht auf den Hintern tätowieren lassen.

Herzlich, Karl H. Scholz

Das Wunder ungeteilter Achtsamkeit

Eigentlich ist es ja die Stille, die am Ende machtvoll spricht, die offen ist und alles in sich vereint, wenn die Worte im Kopf endlich ein zufriedenes Ende gefunden haben. Aber wie diese Stille, wie das Schweigen Gottes finden? Wie kann es überhaupt ganz stille werden, in einer Welt die ständig spricht und lärmt und schreit und donnert – bis hinein in meine Seele?

Ein Weg – und es ist gewiss nicht der schlechteste – ist, sich GANZ auf etwas einzulassen. GANZ auf EINES einzulassen, hinein zu lauschen in das Geheimnis dessen, was sich in diesem Augenblick hier ereignet.

Nicht verstehen zu wollen, nicht festhalten zu wollen, nicht beurteilen zu wollen und nicht ablehnen zu wollen, sondern offen und wach wie ein Kind einfach zu schauen und zu lauschen und so nichts anderes zu tun als GANZ (da)zu sein.

Dann kann sich das grosse Wunder dieser Welt in jedem Augenblick ereignen: Das Wunder, dass es plötzlich still wird in allem Lärm und Gebrüll der Zeit. Das Wunder, dass es plötzlich weit wird und gelöst, in aller Enge unseres Alltags. Das Wunder, dass die Zeit vergeht und ALLE Zeit ver-geht und nur noch jetzt ist, Gottes JETZT.

Die Frage ist, erwarten wir noch, dass uns dies geschieht? Haben wir noch wirkliches Vertrauen in das unvergängliche Wunder unserer Achtsamkeit?

Was nährt?

Im buchstäblichen Sinne selbst-vergessen – unser wahres Selbst vergessend – ziehen wir durch unser Leben und versuchen alles zu unternehmen, um das brennende und stechende Gefühl des Verlorenseins, des Ungewissen nicht mehr wahrzunehmen.

So kämpfen wir und lenken uns ab von dem Gefühl der Einsamkeit und beginnen, wie in einer Ersatz-handlung, auf Konten, Häuser, Autos, Schmuck, Bargeld und wertvolles Metall zu vertrauen. Wir beginnen fast unbemerkt und ziemlich blind auf die Versprechungen von Parteien, von Wissenschaft und sogar Heilsinstitutionen (manchmal auch unserer Kirche) zu schnell zu vertrauen und glauben, wir könnten damit die tiefe Sehnsucht nähren, die in unseren Herzen wohnt.

Dabei ertränken wir nur das durstige Herz durch pochendes Wiederholen und Betonen dessen, was wir meinen zu sein: Deutsche, Schweizer, Europäer, Christen, Gebildete, ehrliche Handwerker, Vater, Mutter, Partner, ein Scholz, ein Hänggi, ein Meier, ein Huber …

Doch sobald wir anfangen, unser Gefühl des Mangels mittels Abgrenzung zu beantworten, mittels Zugehörigkeit und Differenz, beginnt auch das, was viele von uns seit Langem in den Wahnsinn treibt: der Wettbewerb.

Er macht auch vor keiner Kirche halt: Wer hat mehr Kirchenbesucher, mehr Ministranten, besucht mehr alte Leute, wirkt heilvoller in seiner Umgebung, spendet mehr und hat die tiefere Kirchensteuer?

Eigentlich wissen wir genau, dass es keinen Gewinn ohne Verlierer gibt. Wir könnten heute sehr genau sehen, wer und wo die Verlierer sind, auf deren Rücken unser Glück entsteht. Dennoch tun wir so, als gäbe es kein Morgen, keine andere Wahl.

Werden wir so glücklich? Tragen wir so zum Glück in unserer Umgebung bei – geschweige denn in unserer Welt? Das ist doch ignoranter Wahnsinn.

Dieses System ist menschengemacht – auch, wenn wir meinen, es sei ewig – also können es auch Menschen wieder ändern.

Unsere Probleme beginnen damit, dass wir vergessen, wer und was wir wirklich sind. Und sie enden damit, dass wir uns wieder verbinden mit der grossen Quelle, aus der wir bis hierher gekommen sind: Grosses Leben, Gottes Leben, das jetzt atmet in mir und Dir und auch in denen, deren Haut gelb, schwarz oder braun ist und deren Blut doch rot pulsierend durch die Menschenadern fliesst.

Warum nehmen wir die Einladung, die uns der Wind, der Regen, die Sonne, die Erde, der Tag und die Nacht, das Holz auf dem wir sitzen, die Kleidung, die unsere Haut berührt, warum nehmen wir die Einladung, die uns das grosse Leben in all seiner Fülle, in jedem Moment, selbst noch im Sterben und an jedem Ort, selbst im tiefsten Kellerloch entgegen schreit uns nahe streichelt, flüstert, lebt und liebt, nur mit so grossem Zögern an?

Warum lassen wir uns nicht von dem, was wir jetzt sehen, riechen, hören, schmecken, fühlen, zu dem verführen, was unser Herz erfüllt und uns verbinden mit dem Ursprung, der tief in uns das Leben wach hält?

Warum lassen wir uns nicht erweichen, von der Güte, mit der die Erde jeden einzelnen Menschen birgt und lassen unser Innerstes so weit werden, dass es katholisch (allumfassend, das All umfassend) wird und buchstäblich die ganze Welt – damit sich selbst – in liebevoller Zärtlichkeit umarmt?

In der Religion geht es immer auch darum, die Unterschiede so lange zu lieben und zu veratmen, bis sie zusammenfallen, obwohl sie noch da sind:

Kein Aussen, kein Innen, kein Hier, kein Dort, kein Du, kein Ich, nur Leben, das atmet, pulsiert und liebt.

KH Scholz

Als wäre es das erste Mal …

Ich möchte gern ein Anfänger sein. In allem, was ich tue und was ich bin, möchte ich ein einfacher, blutiger Anfänger sein. Nach 50 Jahren als Mensch, nach 22 Jahren als Seelsorger, nach 18 Jahren Ehe und nach bald 13 Jahren als Papa, möchte ich mich, Augenblick für Augenblick je neu als Anfänger vom Leben führen lassen.

Früher dachte ich, es ginge darum, die Dinge zu können. Mehr noch, sie besser zu können als andere. Ich hatte geglaubt, ich müsste mich überall behaupten, beweisen und durchsetzen. Auf dem Weg der Stille durfte ich lernen, wie peinlich das sein kann. Und wie verletzend – für andere und für mich.

In meinem Tunnelblick hatte ich Bewunderung mit Liebe verwechselt. Dieser verkürzte Blick degradiert: mich zum ‘Könner’ und die anderen zu minderwertigen Zuschauern. Das nährt niemanden, es zehrt nur aus.

Als ‘Könner’ bin ich zudem ein „Festgelegter“ und damit blitzschnell ein ‘Festgefahrener’. Als ‘Könner’ fehlen meinem Herz die Ohren. Und den Ohren fehlt, wie auch dem Tun, das Herz.

Als Anfänger aber, weiss ich nichts, habe nichts, bin nichts Besonderes, einfach nur Anfänger. Was bleibt ist offene Weite.

Vom offenen Blick des Anfängers geführt, habe ich keine Ahnung, was aus meinem Tun entsteht. Erst recht nicht, was sich aus meinem Sein entfaltet. Als Anfänger weiss ich nicht. Es bleibt nur, Atemzug um Atemzug in den Augenblick hineinzuwachsen – mich, die anderen, die ganze Welt immer wieder neu zu empfangen. Alle Möglichkeiten stehen offen. Der Blick wird frei, für den nächsten, klaren und oft notwendigen Schritt.

Vielleicht ist es genau das, was uns im eigenen Älterwerden an der Jugend so fasziniert: dass wir am Anfang unseres Weges noch eine leise Ahnung von der unergründlichen Weite und Kostbarkeit des Lebens hatten.

Wirklich zu fragen, ist ein wunderbares Werkzeug echten Anfangens. Was wäre, wenn wir als Menschheit, als Staaten, als Städte und Dörfer, wieder lernten, die richtigen Fragen zu stellen, genau und tief. Wenn wir offen hinhörten, von wo sich eine Antwort zeigt – und nicht aufhören, wahrhaft Lauschende zu sein.

Wohin wird es uns führen, wenn wir uns von der Faszination des ‘Könnens’ und der Leistung verabschieden? Wohin gehen wir, wenn wir lernen, noch klarer die Kraft des ‘nicht Wissens’, der Unfassbarkeit und des Einfachen zu entdecken. Welcher Weg wird sich zeigen, wenn wir uns erlauben, ganz wach und radikal offen, durch unsere Fragen hindurchzugehen?

Den schweren Rucksack des ‘ich weiss schon’ stelle ich ab. Immer wieder. Mit leeren Händen und weitem Geist atme ich ein, als wäre es das erste Mal. Dann ein Schritt …