Einschränkungen sind meistens hart. Sie entsprechen nicht unserem ersten Impuls, mit Herausforderungen umzugehen. Sie fordern die unmodernste und daher ungewohnteste aller innerer Bewegungen: etwas sein zu lassen. Einen Zustand verändern zu wollen, in dem wir versuchen etwas gegen ihn zu tun, liegt uns viel näher. Aber buchstäblich NICHTS zu tun, mit allem aufzuhören, sich still zu verhalten, still zu werden? Das wirkt absurd und sinnlos. Doch das ist es ganz und gar nicht. Das können/müssen wir in diesen Tagen lernen.
Ich möchte nicht sagen, dass der leidliche Virus da ist, um uns etwas beizubringen. Von der Idee, dass er uns gar geschickt wurde, dass die Natur oder eine Gottheit dem Menschen diese Massregelung schickt, halte ich nichts. Ich sage lieber, er ist da. So, wie der Himmel da ist, oder der Frühling, die Krokusse, oder der Marderschiss vor unserem Haus. Er ist da, so wie ich auch. Das lässt sich nicht leugnen.
Aber das bedeutet nicht, dass wir neben all den Unannehmlichkeiten und den Leiden, die seine Präsenz hervorruft, nicht auch etwas durch ihn gewinnen, oder lernen können.
In der Natur lässt sich im Augenblick etwas Ungeheuerliches beobachten. Wo die menschlichen Aktivitäten massiv zurückgefahren wurden, haben Tiere, Gewässer, Luft und Pflanzen in aussergewöhnlich kurzer Zeit begonnen, sich zu erholen. Wir konnten das an den Aufnahmen der NASA zur Luftverschmutzung über Chinas Städten ebenso beobachten, wie in den glasklaren Kanälen Venedigs und an den Delfinen im Hafen von Cagliari.
Sobald wir die Dinge in Ruhe lassen und nur schon einen Augenblick die Stille wirken lassen, beginnen die Selbstheilungskräfte des Lebens, die Dinge wieder neu zu ordnen – eben ganz ohne unser zu-TUN.
Nun wäre es völlig daneben zu glauben, wir müssten ÜBERALL nur unsere Finger heraushalten, die Füsse still halten, gar nichts mehr tun, und alles würde gut. Für die Situation von Flüchtlingen weltweit wäre das ebenso fatal, wie für jeden, der jetzt medizinische oder, psychologische Hilfe braucht. Die Kunst ist, zu wissen, was wann zu tun ist. Und hier kommt, wenn Sie das so wollen, die Lehre des Virus in’s Spiel.
Wie finden wir heraus, wann wir uns einsetzen, und wann wir uns hinsetzen müssen?
Wie kann ich wissen, wo es mein Tun braucht – und wo mein Schweigen?
Ich glaube, dass es dafür keine allgemeine Regel gibt. Aber ich erfahre immer wieder, dass wir dafür alle einen ausgesprochen feinen Sensor in uns tragen, der sich zwar nicht bestechen, wohl aber leicht übertönen lässt.
Der Knackpunkt ist in meinem Fall die Stille. Wenn ich mir regelmässig erlaube, einfach da zu sein und nichts zu tun, nur zu sein, öffnet sich ein Raum, in dem ich diesen «Sensor» nicht mehr so leicht ausblenden kann – ihn gar nicht mehr so einfach ausblenden WILL. Es wird ganz natürlich, das notwendige zu tun – bzw. das überflüssige zu lassen. Und plötzlich wird es schön, das zu tun, was zu tun ist. Vor allem die einfachen Dinge. Manchmal zeigt sich dadurch sogar das «sein-lassen» als notwenigstes und wirksamstes Tun, das sich schenken lässt.
Die Zeit der äusseren Einschränkungen lässt sich tiefer nutzen, um das momentan erzwungene, aber bitter nötige «Hinsetzen» zum Erlauben von innerer Stille werden zu lassen. Täglich, für ein paar Minuten nur. Aber immer wieder. Vertrauensvoll. Ganz gegenwärtig.
Stille ordnet das Herz, klärt die geistigen Kanäle, reinigt die Luft in den Lungen und zwischen den Gedanken. Und sie macht lebendig – alles: das Tun und das Lassen.
«Geh ich zeitig in die Leere
Komm ich aus der Leere voll.
Wenn ich mit dem Nichts verkehre
Weiß ich wieder, was ich soll.
Wenn ich liebe, wenn ich fühle,
Ist es eben auch Verschleiß
Aber dann, in der Kühle
Werd‘ ich wieder heiß.»
(aus den Buckower Elegien 1953, Bertold Brecht)
Karl H. Scholz