„Loset Sie, Mössiö…“

Mit grimmiger Miene und einem Gehstock in der Faust kam sie, eine entschlossen ältere Dame um die 80, auf mich zu und forderte unmissverständlich und mit der im Grunde äusserst helvetischen Eröffnungsformel: „Loset Sie, Mössiö!“ meine Aufmerksamkeit ein.
Ich hatte eben eine Debatte mit einem älteren Herrn geführt, der sich darüber beschwerte, dass wir zu Weihnachten in unserer Pfarrkirche keine Eucharistiefeier anböten.
Von der Dame mit dem Stock erwartete ich nun eine ähnliche, katholische Schelte – doch weit gefehlt.
„Lassen Sie das mit dem dummen Baby in der Kirche! Was soll das an Weihnachten mit diesem Kind. Das hat doch nichts mit Weihnachten zu tun. Das isch doch e seich, mit däm Ching und dere Chrippe!“
Ich bin mir nicht ganz sicher, wann ich zum letzten Mal so grosse Augen gemacht hatte. Noch während ich versuchte mich zu sammeln, schwang sie ihren Stock in der Luft und fuhr mit kräftiger, entrüsteter Stimme weiter: „Das ist doch kein Wunder, dass da ein Kind geboren wurde, damals in Palästina! Aber dass der ein Revolutionär wurde, und dass er das so grundlegend gemacht hat, dass wir heute noch darüber reden, DAS ist für mich ein Wunder! Säget Sie das de Lüt, Mössiö, säget Sie ihne das!“
Ich war nun wirklich sprachlos. Das hatte ich von diesen 80 katholischen Lebensjahren nicht erwartet.
Die alte Dame hat mit der Wucht ihrer Entrüstung mein Herz getroffen. Seltsam verwandt fühle ich mich ihrer Empfindungen, denn ich habe die romantische Überhöhung von Advent und Weihnachten, von Familie und Geburt noch nie wirklich gemocht. Was sich vor dem banal-gesellschaftlichen Auge, in dem Kind in der Krippe auf tragisch-kitschige Art konzentriert, hat für mich nicht wirklich etwas mit dem wahren Segen von Weihnachten zu tun. Viel eher schon mit einem Weihnachtsfluch. Denn die Erwartung von Jahresendromantik und heiler Wirklichkeit, ist in den meisten Fällen genau der Grund für das gerade Gegenteil der tieferen Sehnsucht unseres Lebens. Wie alle überhöhten Erwartungen trägt auch dieser Weihnachtliche heile-Welt-Zwang erschreckend zerstörerisches Potential in sich.
Er lässt uns an der irren Illusion festhalten, es gäbe ein heiles Leben ohne Bruch. Das ist nun nicht nur gelogen, sondern im buchstäblichen Sinn des Wortes von Herzen gefährlich. Denn dieses schräge Bild von Wirklichkeit zerfrist unser Herz, wenn wir es mit dem vergleichen, was tatsächlich unser Leben ist.
So gesehen stimme ich meiner neuen Freundin mit dem agilen Stock aus ganzer Seele zu.
Allerdings meine ich, in dem Bild vom Kind in der Krippe gibt es noch etwas anderes zu sehen, als nur eine oberflächlich heile Welt.
Was da geboren wird ist nämlich tatsächlich revolutionär – und das viel tiefer, als es ein Mensch allein je sein kann. Was da geboren wird, ist das wirkliche Gesicht des Menschen, der wahre Mensch ohne Rang und Nahmen, die Menschlichkeit, das Menschsein schlechthin.
Und was das bedeutet, das erfährt, wer am 24. und 25. Dezember bei uns in der Kirche St. Niklaus vorbei schaut…

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